Der Fünfjährige liebte die Musik. Und er liebte die Uniformen. Immer wenn Hellmut Stern die SS durch die Laubacher Straße in Berlin-Friedenau marschieren hörte, lief er aus dem Haus und hüpfte neben der Kapelle her. Manchmal durfte er die Noten des Klarinettisten halten.
„Dann wurden auch Lieder gesungen. Ich hörte z.B. ‚Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s nochmal so gut.‘ Ich hab das nicht auf mich bezogen. Ich kam nach Hause und sagte zu meiner Mutter: Ich will auch so eine Uniform haben. Und dann sagte sie: ‚Nein! Wir können nicht, wir dürfen nicht und wir wollen nicht. Wir sind Juden.‘ Hab ich nicht kapiert, warum wir nicht dürfen.“ Hellmut legte sich einen Gürtel über die Schulter und befestigte ihn mit Karabinern an seiner Hose – nun hatte er seine eigene Uniform.
Als er mehr als ein halbes Jahrhundert später erfuhr, dass die von ihm als Kind so bewunderten SS-Uniformen von Hugo Boss produziert worden waren, verbannte Hellmut Stern das unter dem gleichen Namen vertriebene Parfum aus seinem Badezimmerschrank.
Der heute 84-Jährige erinnert sich für den Hörspaziergang Friedenau an seine Berliner Kindheit.
Er berichtet, wie er im November 1938 auf dem Weg zur Schule am Südwestkorso an einem Musikalienladen vorbei kam, dessen Fenster eingeschlagen waren. Überall lagen Noten herum, Instrumente waren zertrümmert. Der Junge fragte sich, wieso noch keine Polizei vor Ort sei, um die Suche nach den Einbrechern aufzunehmen. Als er in die Prinzregentenstraße einbog, sah er schon von weitem die brennende Synagoge. Die Lehrer der jüdischen Schule empfingen die Kinder auf der Straße. Die Feuerwehr war zwar da aber sie achtete bloß darauf, dass die Flammen nicht auf die Nachbargebäude übersprangen. Als ein Lastwagen mit Hitlerjungen auftauchte, von dem aus die jüdischen Kinder mit Pflastersteinen beworfen wurden, schickten die Lehrer ihre Schüler nach Hause. ‚Auf dem schnellsten Wege! Nicht stehen bleiben!‘
Doch Hellmut ging nicht nach Hause. Er fuhr zum Bahnhof Zoo, sah zu, wie die große Synagoge in der Fasanenstraße verbrannte. Als ihn ein Mann verscheuchte (‚Det is hier nischt für kleene Jungs‘), ging er zum Kurfürstendamm und wurde Zeuge, wie zerstörte Geschäfte geplündert wurden.“Hier habe ich zum ersten Mal erlebt, wie Menschen zu Räubern werden können. Dass sie auch Mörder sein können, hab ich nicht gewusst damals. Aber es war der Anfang. Es war der erste große Schritt zur Vernichtung der Juden.“
30.000 Juden wurden am 10. November festgenommen. Auch in der Laubacher Straße hielt das Überfallkomando. „Unten fuhr die grüne Minna vor. Da saßen zwei, drei uniformierte Nazis drin und normale Polizei. Dann klopften sie und ich hatte furchtbar Angst. Einer fragte: ‚Deine Eltern zu Hause?‘ Sag ich ‚Nein.‘ Dann gingen sie umher, war ja nicht viel zu sehen. ‚Na, wirklich nicht zu Hause, ok‘. Kinder wurden noch nicht mitgenommen damals. Meine Eltern kamen erst am Abend nach Hause. Sie waren versteckt irgendwo.“
Zehn Tage später begann für Hellmut und seine Eltern die Flucht. Die nächsten elf Jahre verbrachte die Familie in der nordostchinesischen Großstadt Harbin. Es folgten weitere zwölf Jahre in Israel und den USA. Im August 1961, kurz vor dem Bau der Mauer, kam Hellmut Stern nach Berlin zurück. Er wurde erster Geiger bei den Philharmonikern unter Herbert von Karajan.