Eine Reise in die Vergangenheit

Auf einem Audiospaziergang erfährt man vieles aus der Welt der DDR. Zum Beispiel nehmen die Zeitzeugen auf Band ihr Publikum mit zum „Mont Klamott“ oder zu „Onkel Tomskis Hütte“.

Erwachsene nur in Begleitung von Kindern – Andrej weiß noch, wie sehr er staunte, als ein Freund ihm das Schild vorlas. Es hing an der Tür vom Kinder-Café im Haus des Kindes am Strausberger Platz. Mehr als 40 Jahre war er nicht mehr in Berlin, jetzt ist er zurückgekehrt. Er möchte sich an seine Kindheit erinnern. Andrej hat Glück, Manfred hilft ihm. Manfred ist der Hausmeister des Plattenbau-Ensembles rund um den Platz der Vereinten Nationen in Friedrichshain.

Andrej und Manfred sind die fiktiven Erzähler und Tour-Führer beim Audiospaziergang „Zwischen Schwan und Schlange“ – Audiospaziergang über das Leben in DDR-Baudenkmälern. Sie nehmen die Teilnehmer mit auf einen Spaziergang – mit Hilfe der Ohren. „Wir haben gedacht, dass beim Erkunden der Stadt die Augen frei sein sollten“, sagt Ruben Kurschat von „Stadt im Ohr“. „Es ist praktischer, Dinge erzählt zu bekommen, als immer mit einem Reiseführer zu hantieren und gar nicht richtig zum Gucken zu kommen.“

Als die Gegend noch aus zerbombten Ruinen bestand

Das Abspielgerät gibt es am Empfang des Hochhauses am Platz der Vereinten Nation 1 – rund um die Uhr. Von hier aus machen sich die Audio-Tour-Teilnehmer auf zu einem Spaziergang durch die Karl-Marx-Allee in Friedrichshain und einige Seitenstraßen. Hausmeister Manfred und echte Zeitzeugen erzählen auf dem Band vom Leben in den sozialistischen Wohnkomplexen und von den politischen Zusammenhängen.

Man hört zum Beispiel Charlotte Schäker. Sie kann sich noch an die Zeit des Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern, als die Gegend aus zerbombten Ruinen bestand. Tausende Freiwillige beseitigten die Trümmer, luden sie auf kleine Bahnwaggons. Diese Trümmerbahn brachte sie von der Stalinallee in den Volkspark Friedrichshain. Dort wuchs aus Bunker- und Trümmerresten der „Mont Klamott“.

Am heutigen Platz der Vereinten Nationen, der mal Leninplatz hieß, entstand in den 1960er-Jahren ein prestigeträchtiger sozialistischer Wohnkomplex. Der berühmte Architekt Herrmann Henselmann wollte beweisen, dass Plattenbau nicht immer eckig sein muss und baute ein elegant gebogenes, schlangenförmiges Ensemble. Die Audio-Tour gibt auch eine Einführung in die Welt der Plattenbauten. Der Typ P 2 mit Küche ohne Fenster, aber mit Durchreiche, war so ein Standard, WBS 70 hieß ein weiterer.

Victor Grossman erzählt auf dem Band, dass ihm die Einweihung des Wohnblocks und die 19 Meter hohen Lenin-Statue davor im Jahr 1970 noch gut in Erinnerung ist – weil das Tuch, das Lenin verhüllte, partout nicht fallen wollte. Der Bildhauer Nikolai Tomski, so die Legende, verhalf dem Wohnblock zum Spitznamen „Onkel Tomskis Hütte“.

„An Stalin wie an Gott geglaubt“

Der Spaziergang führt weiter in Richtung Strausberger Platz zum Haus des Kindes und dem 1966 gebauten Springbrunnen in der Platzmitte. Richtung Osten geht es dann entlang der Karl-Marx-Allee. In den 1950er-Jahren war die Straße mit den gekachelten Hausfassaden das größte Bauprojekt in der DDR. Am 17. Juni 1953 protestierten auch dort die Bauarbeiter gegen Normerhöhungen und Unfreiheit.

Auf dem Band versucht der DDR-Altlinke Hans Modrow, die damalige Stalin-Verehrung so zu beschreiben: „Wir haben an Stalin wie an Gott geglaubt.“ Schließlich wurde nicht nur der Straßenname in Karl-Marx-Allee geändert, sondern im Jahr 1961, bei Nacht und Nebel, auch das Stalin-Denkmal abgerissen. Nur das Bronze-Ohr des Diktators blieb übrig, sein Abdruck ist im Café Sibylle zu sehen, das sich auch als Geschichtswerkstatt versteht und auf dem Tourprogramm steht. Und noch eine einstige Sehenswürdigkeit lernen die Teilnehmer kennen: die Sporthalle, die 1951 an der Karl-Marx-Allee für die Weltfestspiele der Jugend und Studenten errichtet und 1971 wieder abgerissen wurde.

„Drei Viertel der Tour-Teilnehmer sind Berliner, die uns weiterempfehlen“, sagt Ruben Kurschat. Nach gut zwei Stunden ist der fiktive Berlin-Heimkehrer Andrej erfüllt von Kindheitserinnerungen, die Tour endet, wo sie begann: am Platz der Vereinten Nationen.

Quelle: Berliner Zeitung, 6.10.2013

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