Problemviertel und Künstlerkiez: Wo Berlin noch echt ist
Berlin Dönerbuden, Spielhöllen, alternative Cafés und Galerien: Der Wedding, einst proletarische Hochburg, heute Hartz-IV geplagt, ist immer noch raues Pflaster, zieht aber auch Kreative an. Ein neuer Hör-Spaziergang führt zu alten Fabriken, neuen Lokalen, Brachflächen und an die idyllische Panke.
„Hey, bleib mal stehen“, sagt der Mann im Ohr. Der Torbogen an der Prinzenallee wirkt unscheinbar. „OASE“ steht in bunten Lettern über dem Eingang, der zur alten Hutfabrik führt. Aus den Kopfhörern dringt plötzlich das Rattern von Maschinen. „Überall im Hof liegen Stoffreste verstreut, oben im zweiten Stock öffnet sich ein Fenster, und eine Kiste mit schwarzem Stoff fällt auf den Hofboden“, lässt die Stimme die Vergangenheit wieder auferstehen.Die Besitzer der Hutfabrik wurden von den Nazis deportiert. Das über 100 Jahre alte Gebäude stand in den 80er-Jahren auf der Abrissliste. Doch die Weddinger besetzten es. Irgendwann konnten es die Hausbesetzer übernehmen und ein legales gemeinschaftliches Wohnprojekt daraus machen.
Eine Geschichte, die so ganz typisch für Berlin ist. Aber auch eine, die immer seltener wird. „Während in Prenzlauer Berg und Kreuzberg der kreative Spielraum knapp geworden ist, hält der Wedding noch jene Freiräume bereit, die in Berlin so sehr gefragt sind“, sagt Ruben Kurschat von „Stadt im Ohr“. Seit 2006 bietet er Stadtführungen mit kleinen, nicht einmal handtellergroßen Audio-Guides an. Zuerst zu Sehenswürdigkeiten in Mitte. „Irgendwann haben wir gemerkt, je ferner die Touren vom Mainstream sind, umso besser.“
Und so trifft man auf dem neuen Hörspaziergang „Werkstatt Wedding“ nicht auf einen einzigen Touristen. Die Tour mit 14 Hörstationen führt vorbei an billigen Bäckern, Sperrmüll und neuen Cafés, die Idealisten und Geschäftstüchtige in jahrelang leerstehenden Ladenlokalen eröffnet haben. „Gehe weiter zum „Kamine und Weine“, rät der Mann im Ohr und bittet seine Zuhörer durch die Scheiben des Ladens zu gucken, der beides verkauft. Drinnen sieht man selbstgezimmerte Bänke und Tische. In den Holzregalen stehen Weine und Oliven. „Das war hier total die Ruine“, erzählt Inhaber Heiko Schmidt auf dem Hörspiel. „Es war aber auch schön, mit nichts außer ein bisschen Erfahrung etwas Neues zu schaffen.“
Und so kommen zwischen allgemeinen Erklärungen, poetischen Zwischenbetrachtungen und Rap-Einlagen von Weddinger Immigranten-Kids auch immer wieder Anwohner und Zeitzeugen zu Wort. „Ich komme aus dem Süden, da sind alle so satt. Das halt ich nicht aus. Ich muss da wohnen, wo noch Fragen gestellt werden“, sagt eine Zugezogene. Eine Künstlerin erzählt, wie sie mit Bauwagen und Dixi-Klo im Hochsommer eine der alten Brandmauern neben einem verwahrlosten Spielplatz bemalen durfte. Betreten, wie vom Audio-Guide gefordert, kann man ihn nicht. Ein Zaun umschließt die morbide Anlage. Und so kann es passieren, dass der beschriebene Wandel die monatelange Recherche überholt.
Also weiter zur Osloer Straße. An der Currywurstbude auf der Mittelinsel köpfen Hartz-IV-Empfänger schon vormittags das erste Bier. Der Blick reicht fast bis zur Bornholmer Brücke. „Das hier war das erste, was die Ossis vom Westen sahen, als sie 1989 über den Grenzübergang strömten“, sagt die Stimme. Und berichtet, wie sich der damalige Bürgermeister des armen Weddings gegen eine Bezirkszusammenlegung mit dem damals noch heruntergekommenen Prenzlauer Berg sträubte.
Der Verkehr tost dort mit 80 Dezibel. „Die Wohnungen an lauten Orten sind billiger“, erklärt der Guide und fragt: „Wann hast Du das letzte Mal Geld für Ruhe bezahlt?
Die gibt es nur wenige Schritte weiter kostenlos. Ein Pflasterweg führt an der Panke entlang. Enten lassen sich unter schattenspendenden Bäumen in der Strömung treiben. Sanftes Plätschern löst plötzlich die Geräusche der hektischen Großstadt ab. Eine weibliche Stimme aus dem Kopfhörer erzählt von einem Jungen am Ufer, der sehnsüchtig auf ein rotes Kinderfahrrad blickt, das zwischen den Steinen im Kanal hängengeblieben ist. Und tatsächlich, auf einer der kleinen Brücken sieht man plötzlich das rote Gestell aus dem Wasser blitzen. In alten Backsteinfabriken haben sich einige Künstler angesiedelt.
Aus diesem unverhofften Naturidyll tritt man plötzlich hinaus an eine Ecke mit all den Kontrasten, die Berlin immer ausgemacht hat. Spielhallen, Billigfriseure und Shisha-Bars sind zwar schon wieder zu sehen. Doch wir verweilen auf Liegestühlen unter hohen Ahornblättern neben einer Brandmauer, deren Werbung genauso eine romantische Patina angesetzt hat wie das Graffiti an den alten Ziegelmauern. Der Eismann hat den kleinen Biergarten am steinernen Panke-Ufer improvisiert. Abends sei es noch schöner, dann gibt es auch Live-Musik, erzählt der Weddinger, der seit 20 Jahren sein Geschäft führt. Auch er verkauft inzwischen Latte und Minz-Eis. Die Prenzelberger, die jetzt mit ihrem „Designer-Getue herüberschwappen“, gehen ihm trotzdem „auf den Zünder“. Die Stadt sei kaum noch wiederzuerkennen, findet er. „Der Wedding ist der einzige Ort, der noch echt Berlin ist.“
Märkische Oderzeitung im Juli 2018