Der beste Türöffner zum Kiez ist ein Friseur, dachte ich mir und begab mich auf die Suche nach einem Laden, der sich nicht „Einkehren & Ausscheren“ oder „Haart aber herzlich“ nennt. Ich wollte nicht einer Stylistin unter die Schere, sondern einem Barbier unter’s Messer geraten.

Das Schild mit dem schlichten Namen „Ihr Herrenfriseur“ überzeugte mich. Und das Versprechen auf der Scheibe „Reinkommen, bald drankommen ohne lästige Voranmeldung“ sollte sich bewahrheiten. Der schon ergraute Meister seines Faches bürstete gerade seinem ebenso ergrauten Kunden ein paar Haare vom Westover. Beide sprachen über die im Schaufenster in Saatschalen angesetzten Keimlinge, die in wenigen Monaten für Blumenpracht vor dem Haus sorgen sollen. Hier bin ich richtig, dachte ich mir. Denn was ich bislang mit Friedenau verband, war vor allem sein Ruf als Ort der idyllischen Vorgärten.

Mein Wunsch nach einer Rasur bescherte mir eine unerwartete Erwiderung: „Oh, ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das empfehlen kann. Ich hab’s nicht so mit der Feinmotorik.“ Der Herr der scharfen Klinge erklärte, eine Nervenentzündung im Oberarm habe dazu geführt, dass bestimmte Bewegungsabläufe für ihn nicht mehr so gut steuerbar seien. Das wäre beim Haareschneiden kein Problem. Es komme auch nur noch sehr selten vor, dass jemand zum Rasieren einen Friseur aufsuche. Was das Handycap für die Arbeit mit dem Messer bedeute, wurde nicht abschließend erörtert. Während ich noch überlegte, ob ich meine Reise zu den Geschichten Friedenaus so abenteuerlich beginnen lassen wollte, waren die Vorbereitungen schon abgeschlossen, der Pinsel wanderte mir schäumend übers Gesicht.

Ich schloss die Augen, atmete tief durch und konzentrierte mich auf die Worte meines Barbiers von Friedenau. Ich hatte ihm von meinem Ansinnen, ein Hörspiel über den Ort zu schreiben erzählt. Doch statt Anekdoten mit Lokalkolorit erhielt ich eine Einführung in die Entstehungsgeschichte seines Berufsstandes. Ich erfuhr, dass der Haarschneider im Mittelalter zugleich Bader und Scherer gewesen ist. Neben den Aufgaben der Körperreinigung und -pflege war er für die Behandlung von Wunden und für chirurgische Eingriffe zuständig. Denn der akademischen klerikal geprägten Ärzteschaft war es seit dem Konzil von Tours päpstlicherseits untersagt, mit Blut in Kontakt zu kommen. Ärzte konzentrierten sich fortan auf die innere Medizin und überließ das Feld der Wunden und Brüche den Handwerkschirurgen im Badehaus.
In Preußen entwickelte sich aus dem Bader- und Scherertum das Sanitätswesen. Und erst der Leibarzt des Alten Fritz und Leiter der Charité führte handwerklich geprägte Chirurgie und akademische Medizin wieder zusammen.

Dankbar für den überraschenden Ausflug in die Geschichte seiner Zunft und froh, dass es zu keinem größeren Aderlass gekommen war, verabschiedete ich mich von meinem Herrenfriseur. Ich fühlte mich, als kehrte ich heim von einer Zeitreise und die noch hie und da übersehenen und deutlich fühlbaren Stoppeln nahm ich als Zeugen dieser Begegnung und als Willkommensgruß in Friedenau.

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